Freitag, 8. Februar 2013






In den ersten 38 Jahren meines Lebens konnte ich praktisch nicht lesen und schreiben – mittlerweile habe ich dieses Problem so gründlich überwunden, dass ich ein Buch schreiben und sogar als Hörbuch einlesen konnte! Wie war das möglich?

Dazu habe ich Folgendes herausgefunden: Legasthenie entsteht weder durch Hirnschädigungen noch durch Nervenläsionen. Sie wird auch nicht durch eine Fehlfunktion des Gehirns, der Hör- oder Sehnerven hervorgerufen. Sondern Legasthenie ist das Ergebnis einer besonderen Art des Denkens und eine natürliche Reaktion auf Verwirrung!

Vor der Erfindung der Schrift gab es keine Legasthenie, sondern Menschen mit dem Talent der Legasthenie waren vermutlich wegen ihres guten Gedächtnisses für die gesprochene Sprache die Bewahrer und Überlieferer der Entstehungsgeschichte des Volkes (wie wir sie heute noch z.B. bei den Maori finden, die keine Schrift hatten).

Legastheniker haben von Natur aus eine größere Wahrnehmungsfähigkeit und können geistige Konzepte schneller erfassen als andere Menschen. Sie brillieren in den schönen Künsten, der Architektur, als Ingenieure, Strategen und Erfinder. Sie können ihre Vorstellungen so real erleben wie die Wirklichkeit (man denke an Einstein, der durch die Vorstellung, wie er auf einem Lichtstrahl reitet, die Relativitätstheorie vorbereiten konnte) und diese Art des intuitiven Denkens ist die Voraussetzung genialer Erfindungen. Es handelt sich dabei um nonverbales Denken – deshalb können beim Erlernen der Schriftsprache in den ersten Schuljahren Schwierigkeiten auftreten.

Unser Schulsystem basiert ja vor allem auf Lesen und Schreiben, insbesondere bei der Leistungsmessung – hierbei schneiden Legastheniker schlecht ab und es kann dadurch aussehen, als hätten sie eine Intelligenzminderung.

Dies ist ein echter Nachteil unseres Umganges mit Sprache und unserer Pädagogik! Aufgrund meiner Erfahrungen durch die Arbeit mit mehr als 1000 Legasthenikern habe ich folgende Theorie darüber entwickelt, wie Legasthenie während der Kindheit entsteht:

1.    Ein Kind entdeckt bereits im Alter von 3 Monaten, wie es unvollständige Wahrnehmungen durch den geistigen Akt der Imagination vervollständigen kann. Dieses Talent kann später im Leben zu Legasthenie führen. (Siehe Beispiele im Buch „Legasthenie als Talentsignal von R.D.Davis).

2.    Während der frühen Kindheit nutzt das Kind dieses Talent, um Gegenstände in der Umgebung zu erkennen und einzuordnen und um künstlerische oder kinästhetische Fähigkeiten zu entwickeln. Das Kind denkt visuell und in Inhalten – dadurch ist es nicht darauf angewiesen, sprachgebundenes Denken auszubilden, das ja viel langsamer ist und als innerer Monolog abläuft.

3.    Gegen Ende der Kindergartenzeit, spätestens in der ersten Klasse, wird vom Kind erwartet, dass es beginnt zu lesen! Geschriebene Sprache – zusammengesetzt aus phonetischen Symbolen – ist ein Rätsel.

In diesem Alter desorientiert sich das Kind automatisch (wie in Punkt 1 beschrieben), um die Dinge in der Umgebung zu erkennen und zu verstehen. Bei realen Dingen funktioniert es prima, „sich ein Bild davon zu machen“, was es sein könnte – bei Buchstaben jedoch macht es wenig Sinn, sie falsch herum oder in einer neuen Ordnung wahrzunehmen: ihre Bedeutung erschließt sich dadurch nicht. 

4.    Stattdessen wird das Kind immer 
verwirrter und desorientierter. Es hat den Verdacht, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Dieser Verdacht wird durch die Lehrer, die anderen Schulkinder, die Schulbehörde und manchmal sogar von den Eltern bestätigt. Jeder regt sich auf und das „überforderte Kind“ regt sich auch auf! Als Folge können Verhaltensprobleme auftreten.

5.    Wenn nun niemand eingreift und angemessene Lehrmethoden anbietet, hat das Kind keine andere Wahl, als sich irgendwie durch die Schulzeit zu kämpfen, möglicherweise in einer Sonderschule oder unter dem Einfluss von Drogen wie Ritalin oder Cylert.

6.    Im Alter von 8 oder 9 Jahren entwickelt das Kind allerlei Tricks wie Auswendiglernen, Lesen und Schreiben vermeiden - oder sich auf andere verlassen. In den sogenannten praktischen Fächern wie Naturwissenschaften, Musik, Kunst und Sport kann das Kind zur Bestform auflaufen, aber Fächer, in denen viel Lesen und Schreiben gefragt sind, erlebt es als Tortur.

7.    Wenn in dieser Situation niemand dem Kind Mitgefühl und Respekt zeigt, leidet sein Selbstwertgefühl.

8.     Nach dem Schulabschluss beginnt es, das „Handicap“, funktioneller Analphabet zu sein, zu überwinden oder umgeht es (z.B. mithilfe einer Sekretärin), denn Legastheniker bringen es durchaus weit in ihrem Beruf.

9.    Wenn der Legastheniker erwachsen ist und immer noch unfähig, richtig zu schreiben und zu lesen, bleibt diese Tatsache aus Scham sein Geheimnis. Er ist überzeugt, dass er nicht nur dumm, sondern auch wertlos ist. Mit diesem unvorteilhaften Selbstbild können erwachsene Legastheniker verschlossen und feindselig werden.

Der wichtigste Teil einer Behandlung der Legasthenie (oder anderer Lernprobleme wie ADD oder Hyperaktivität) ist deshalb sicherlich die Wiederherstellung des Selbstwertgefühls. Das Vorgehen, das in dem Buch „Das Talent der Legasthenie“ beschrieben wird, versetzt eine vorher „lernbehinderte Person“ in die Lage, innerhalb von 30 Stunden die Grundlagen des Lesens und Schreibens zu erlernen. Nach einigen Monaten der Anwendung des Gelernten können die meisten von ihnen altersentsprechend lesen, schreiben und lernen. Die wichtigste Lektion ist jedoch, dass sie das „Dummsein“ verlernen!

Wie können wir verhindern, dass Kinder ihr Selbstwertgefühl verlieren? Meine Kollegin Dr. Ali schlug vor, dass Sie die Wörter „blöd“, „dumm“ und „überfordert“ aus Ihrem Sprachgebrauch streichen. Sie sollten Legastheniker außerdem weder für Fehler kritisieren noch ihnen das Gefühl geben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Bemühen Sie sich lieber zu verstehen, wie Legastheniker denken und heben Sie ihre Stärken hervor. Finden Sie angemessene Methoden, um den Kindern beim Lernen, Lesen und Schreiben zu helfen. Denken Sie daran, dass manche brillante Kinder erst mit 8 oder 9 Jahren bereit sein könnten, Lesen und Schreiben zu erlernen. Sie werden die Mitschüler schneller einholen, wenn sie nicht von Selbstzweifeln belastet sind.

Wenn Sie Kinder beim Lernen unterstützen, betrachten Sie Symbole oder Wörter als Rätsel, die spielerisch gelöst werden können. Das darf Spaß machen! Dies wird in Kapitel 28 und 29 von „Das Talent der Legasthenie“ behandelt. Sprachfertigkeiten sind prima, aber es gibt andere wichtige Fertigkeiten fürs Leben und es gibt „Erfahrungslernen“. Trauen Sie Legasthenikern mehr davon zu und Sie werden die Erfahrung machen, dass sich hinter der „Lernschwäche“ eigentlich ein „Genie in Verkleidung“ verbirgt oder zumindest ein hohes Maß an Intelligenz und Fähigkeiten, die Legastheniker in sich tragen, seit sie geboren wurden!


Übersetzung des Originalartikels, der veröffentlicht wurde unter:
Davis, R.D. & Braun, E.M. (1995).
Education vs. Child Development: How Dyslexia Happens. Retrieved February 05, 2013 from Davis Dyslexia Association International, Dyslexia the Gift Website: http://www.dyslexia.com/library/edart.htm, Übersetzung: Astrid Grosse-Mönch.

4 Kommentare:

  1. "Legasthenie ist ein Gespenst und Gespenster gibt es nicht" hat meine verst. Kollegin immer sehr deutlich gesagt und "Legasthenie ist keine LERNschwäche sondern eine LEHRschwäche." das kann ich als Ich-kann-Schule-Lehrer vollinhaltlich bestätigen.
    Es müsste doch langsam selbst dem Blindesten auffallen, dass a) Legasthenie seit dem KMK-Beschluss vom April 1978 - also seit 35 Jahren - offiziell gefördert wird und dass wir längbst mehr als doppelt soviele Rechtschreibfehler machen wie damals.
    Ein gigantischer Erfolg also.
    Nur gerade in der entgegengesetzen Richtung.

    Das Problem ist gar nicht die sog. Legasthenie.
    Das Problem ist, dass die Legasthenie stets im Zusammenhang mit der angewandten Pädagogik und Therapie nicht schwindet sondern wächst und wächst und wächst.
    Ich kann als Ich-kann-Schule-Lehrer nur bestätigen, dass die betroffenen Kinder nicht dümmer sondern intelligenter als die anderen Kinder sind. Sie sind zu FEIN BEGABT für die übliche PLUMPE & GROBE PÄDAGOGIK. Die Pädagogik nschlöägt iuhre Talente buchstäblich in die Flucht und drängt dann auch noch ein völlig verkehrtes Bild von ihnen auf. Dieses falsche Selbstbild wird nicht selten ein ganzes Leben lang per AUTOSUGGESTION unbewusst weiterbetrieben.
    Schule ist im Wesentlichen der Ort, wo man verkehrt mit seinen besten und entscheidendsten verkehrt umgehen lernt.
    Das ist ein Fehler, der einem ständig zeigt, was fehlt, und somit ist das Problem jederzeit einfach zu lösen. Ich habe das immer wieder an Ich-kann-Schule-Beispielen praktisch aufgezeigt.
    Dafür muss man allerdings den gelernten verkehrten Umgang mit sich und seinen Talenten erkennen und korrigieren.
    Guten Erfolg!
    Franz Josef Neffe

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  2. Sehr geehrter Herr Neffe,

    vielen herzlichen Dank für Ihren wertvollen Kommentar und die bestätigenden Erfahrungen, die Sie schildern.
    Wir freuen uns, dass die Ansicht bzw. Überzeugung "Lernprobleme sind nicht Probleme, die von den Lernenden erzeugt werden", auch von anderen so erlebt und erkannt wird.
    Wir würden sehr gerne Ihren Kommentar in unserem nächsten Newsletter veröffentlichen. Sind Sie damit einverstanden?

    Wir würden uns auch über einen näheren Kontakt zu Ihnen und Ihrer Arbeit sehr freuen.
    Wenn Sie wollen, können Sie uns Ihre Kontaktdaten an info@dyslexia.de vermitteln mit der Bitte der Weiterleitung an mich. Dann würde ich Sie gerne persönlich kontaktieren.

    Es würde mich freuen, von Ihnen zu hören, auch Ihnen guten Erfolg,

    Ioannis Tzivanakis – Davis-Lernverband-Leiter

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  3. Gerne. Mail ist unterwergs.
    Herzlich grüßt
    Franz Josef Neffe

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